…und ich deshalb lieber Anschreiben als Lebensläufe lese.
Vor einigen Monaten wurde die Diskussion um Pro und Contra von Bewerbungsanschreiben in meine Twitter-Timeline gespült. Im Blog von Mr. Arbeitgebermarketing Henner Knabenreich ging es z.B. um die Frage ”Stellenanzeige oder Anschreiben: Was stirbt zuerst?” Es geht bei der Frage, ob man Bewerber_innen das Formulieren eines Anschreibens zumuten möchte, auch um den Wunsch nach einer guten Candidate Experience, ist klar. Ein gutes Anschreiben zu formulieren kostet Zeit und die ist oft knapp bemessen.
Warum das Bewerbungsanschreiben nicht tot, sondern nur zu oft falsch eingesetzt wird (z.B. als ausformulierte Wiedergabe des Lebenslaufs), hat auch schon Stefan Scheller vor fast einem Jahr im Persoblogger gut zusammengefasst.
Für mich ist diese Diskussion in der letzten Zeit zu einem guten Beispiel für den sich verändernden Fachkräfte- und Recruiting-Markt geworden. Worauf müssen sich HR-Bereiche einstellen, wenn sie qualifizierte Entwickler_innen, IT-Profis etc. finden möchten? Wie aussagekräftig können formale Stationen bei IT-Berufen sein? Woran erkennt man gute Entwickler_innen?
Meine Erfahrungen, Schlussfolgerungen und drei Recruiting-Tipps, möchte ich hier mit euch teilen:
MINT macht nicht automatisch digital
Auf Veranstaltungen oder bei Bewerbungsgesprächen treffe ich immer mal wieder auf Studierende, die sich einen Einstieg in die Digitalbranche vorstellen könnten, aber wenig bis keinerlei Bezug zur IT oder Web-Entwicklung haben – und das, obwohl sie in MINT-Studiengängen studieren. (Was das über die Praxisnähe unserer Studiengänge aussagt, kann gerne nochmal an anderer Stelle diskutiert werden.) Ein bestimmter fachlicher Studiengang ist also noch längst keine Garantie für die Affinität zur Digitalbranche.
“Richtig” Programmieren lernt man in der Freizeit
Bei unseren Vorstellungsgesprächen treffen wir immer mehr Bewerber_innen, die einen “untypischen” Lebenslauf haben (z.B. keinen informatikbezogenen Studiengang/Ausbildung, abgebrochenes MINT-Studium, abgebrochene Ausbildung, …) und die trotzdem großartige Entwickler_innen sind. Oder wie es ein Bewerber in unserem Kennenlerngespräch sagte:
Ich bin überzeugt, dass man Programmieren nicht in der Schule lernt.
…und auch nicht in der Uni”, möchte ich hinzufügen. Engagement beim Programmieren lernt man nicht in zwei Schul- oder Semesterwochenstunden. Ein Arzt lernt ja auch nicht (nur) im Medizinstudium, sondern durchs praktische Ausüben.
Ohne Frage: Studieren bildet
Natürlich ist ein Studium wertvoll und neben rein fachlichem Wissen erwirbt man in der Regel viele Kompetenzen (Selbstorganisation, eigenständiges Erarbeiten neuen Wissens, Fähigkeit zu analytischem Denken), die auch in der Web-Entwicklung und generell einem agilen Arbeitsumfeld voller Wissensarbeiter enorm wichtig sind. (Leseinspiration hierzu: Das ZEIT-Interview „Bildung beginnt mit Neugierde“ mit Philsoph und Schriftstellter Peter Bieri) Ich möchte hier also gar nicht das Studium an sich klein reden. Was mir aber in den letzten Jahren im Recruiting bei comspace immer wieder auffällt ist, dass ein MINT-Studium nicht automatisch gute Entwickler_innen hervor bringt.
Du möchtest (besser) programmieren lernen, weißt aber noch nicht genau wie oder wo?
Hier ein paar (überwiegend kostenlose) Probiertipps:
- Learn to code! Kostenlose Online-Kurse gibt es bei codecademy
- “The world’s best online courses” von Top-Unis gibt’s bei Coursera
- IT-Stipendien und Code Competitions gibt’s bei den IT Talents
- “Coden, proggn, Sachen machen” kannst du in der Hacker School
- Ein Programmier-Studium gibt es neuerdings bei der Code University in Berlin
comspace ist ein bunter Haufen von Profis
Wer unser Blog verfolgt weiß, dass ich gerne auf unrepräsentative, aber aussagekräftige Eigenbeispiele zurückgreife, z.B. wenn es um gutes Arbeiten, Begeisterungsfähigkeit und Eigeninititative geht. Bei comspace sind wir vermutlich unser bester praktischer Beweis dafür, dass man nicht unbedingt ein abgeschlossenes MINT-Studium braucht, um gute Webanwendungen entwickeln zu können. Hier einige Beispiele, welchen formalen Background unsere Kolleg_innen in der Web-Entwicklung haben:
- Informatik-Studienabbrecher, die “was praxisbezogeneres machen” wollten
- Abgebrochenes Erststudium, dann mehrere Jahre Berufserfahrung + aktuell nebenberufliches Informatikstudium
- Ausbildung zum Fachinformatiker (alle Azubis haben schon VOR Beginn ihrer Ausbildung privat gerne programmiert)
- Erstausbildung Physiotherapeut + zweite Ausbildung zum Fachinformatiker
- Ehemalige Mathe-, Jura- und Philosophiestudierende, die kurz vor dem Abschluss die Uni abgebrochen haben, weil sie ihre Leidenschaft für die Web-Entwicklung entdeckten
- Ehemalige freiberufliche Web- oder Software-Entwickler
- Mathe- und Informatik-Uniabsolventen
- Abgeschlossene Chemielaborantenausbildung, jetzt Fachinformatiker-Ausbildung
Dass sie alle fachlich Expert_innen auf ihrem Gebiet sind, sich intensiv und selbständig weiterbilden, vernetzen und austauschen, liegt an ihrer Begeisterung fürs Programmieren. Wie könnte das ein einfacher Lebenslauf widerspiegeln?
Ergebnisse aus der Stack Overflow Entwicklerumfrage 2017
Bestätigung erhält unsere Selbsteinschätzung durch die letzte Stack Overflow Entwicklerumfrage, nach der 93% der Entwickler_innen ihre Fähigkeiten zumindest teilweise autodidaktisch (also unabhängig von einem Studium oder einer Ausbildung) erlernt haben. Dazu passt, dass drei Viertel der Befragten (77%) auch nach der Arbeit als Hobby programmieren und sich auf diesem Weg wertvolle Fähigkeiten und Wissen aneignen. Wie sieht es denn mit der Dauer der fachlichen Erfahrung aus? Bei vielen befragten Entwicklern übersteigt die kumulierte Zeit der Entwicklererfahrung sogar die Berufserfahrung. Die Macher der Studie folgern daraus, dass “Recruiter, die nur auf das Alter oder das Jahr des Uniabschlusses schauen, die Erfahrung eines Software-Entwicklers oft falsch einschätzen”.
#TeamAnschreiben
Wenn ich mich zwischen Lebenslauf und Anschreiben bei der Einschätzung einer Bewerbung entscheiden müsste, wäre ich nach all den oben genannten Argumenten im “Team Anschreiben”. Zeugnisse lese ich schon lange nicht mehr (Kennt jemand eine Studie über den Vergleich zwischen der Mathe-Abiturnote und dem späteren beruflichen Erfolg als Entwickler_in? Daran wäre ich sehr interessiert!). Gute Anschreiben dagegen finde ich ziemlich aussagekräftig. Und mit “gut” meine ich nicht, stilvoll bis ins Detail ausformuliert, sondern authentisch, informativ und individuell. Dass auch das manchmal schwierig zu bekommen ist, kann ich nicht abstreiten und Kristin Wallat hat es im Blog der Ministry Group treffend als “Risiko Indivdualität” beschrieben. Trotzdem bleibe ich optimistisch und glaube an das eigentlich Gute im MenschenAnschreiben. Deswegen, liebe Bewerber_innen: Nutzt das Anschreiben, um über den Lebenslauf hinaus zu gehen, eure Motivation und eure fachlichen Highlights deutlich zu machen.
Meine Ideen für mehr Erfolg im IT-Recruiting
- Lest den CV als das, was er ist: Eine aufs Kürzeste reduzierte Timeline formaler Stationen – nicht weniger, aber auch nicht mehr.
- Ermuntert eure Bewerber_innen zu einem gehaltvollen Anschreiben. Dafür müsst ihr wahrscheinlich in Vorleistung gehen: Die Texte auf euren Jobseiten sollten dem entsprechen, wie ihr später auch mit den Menschen im Unternehmen redet, also seid auch ihr authentisch, informativ und individuell. Wir haben z.B. seit einiger Zeit Leitfragen zur Orientierung bei der Bewerbung unter unseren Stellenangeboten.
- Behaltet trotzdem die Candidate Experience im Blick. 😉
- Seid offen für neue Recruiting-Wege, über die ihr Alternativen zum Anschreiben bietet und eure Zielgruppe wirklich kennenlernen könnt. Inspiration gibt’s z.B. im Frechmut-Blog von Jörg Buckmann oder zu unserer SMS-Recruiting-Aktion – bei der wir übrigens auch bewusst nicht nach Schulabschluss, sondern nach Programmiererfahrung, dem tollsten Projekt oder dem liebsten digitalen Tool gefragt haben.
- Umdenken ist angesagt. Macht es wie Jeff Weiner, der CEO von LinkedIn. Sein neues Recruiting-Credo bringt es wunderbar auf den Punkt: ”Skills, not degrees”.
Nachtrag vom 24.07.2017
In der vergangenen Woche erschien ein passender Artikel zum gleichen Thema, aber mit anderer Perspektive auf das Bewerbungsanschreiben: „Die Recruitment-Leiterin von Henkel erklärt, warum sich Bewerber das Anschreiben sparen können.“ Der Betonung auf den persönlichen Kontakt kann ich absolut zustimmen, der (natürlich) immer aussagekräftiger ist als ein Anschreiben. Trotzdem würden sich für mich Anschreiben und Telefonkontakt nicht ausschließen.
Die Diskussion bleibt spannend, wie auch die Kommentare unter dem Tweet zeigen.
Was meint ihr: Wie hoch ist das Risiko, ohne Anschreiben wertvolle Kontextinfos zu privaten Interessen & Projekten, nicht-beruflicher Programmiererfahrung etc. außer Acht zu lassen? Wonach beurteilt ihr Bewerbungen? Was kann weggelassen werden?