Digitale Barrierefreiheit: Bewusste Integration in den Entwicklungszyklus von Webprojekten

In einer Zeit, in der das Internet fast alle Bereiche unseres Lebens durchdringt, ist der barrierefreie Zugang zu Web-Inhalten für jeden Menschen, unabhängig von körperlichen oder kognitiven Einschränkungen, ungemein wichtig geworden. Stell dir eine Person mit einer Sehbehinderung vor, die online einen Termin bei einem Arzt vereinbaren muss, aber auf eine Webseite stößt, die dies sehr erschwert oder unmöglich macht.  Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), der nationalen Umsetzung des European Accessibility Act (EAA), wurde dafür ein rechtlicher Rahmen geschaffen. Was muss man jetzt tun und wie geht man vor, um digitale Barrierefreiheit im Entwicklungszyklus bewusst zu integrieren?

28. Juni 2025 – ein wichtiger Termin

Ab diesem Tag müssen Webseiten, Webshops und (native) Apps grundsätzlich barrierefrei sein, unabhängig davon, ob es sich um neue Projekte oder bestehende Anwendungen handelt. Entgegen mancher Interpretationen der Verordnung gibt es anscheinend keine Übergangsfrist bis zum 27. Juni 2030.

Digitale Barrierefreiheit im Entwicklungszyklus – Vorgehen im Projekt

Eine der wichtigsten Praktiken ist die frühzeitige Integration von Barrierefreiheitsüberprüfungen in das Projekt und den Entwicklungszyklus. Statt digitale Barrierefreiheit als nachträglichen Gedanken oder als bloße Checkliste am Ende eines Projekts zu behandeln, sollten Projektleiter*innen, Stakeholder*innen, Redakteur*innen, UX/UI-Designer*innen und Entwickler*innen sie von Anfang an berücksichtigen. 

Hierfür sollte zuerst eine Bewusstseinsbildung für Barrierefreiheit im Projektteam stattfinden. Die Bereitstellung von Ressourcen und Schulungen für alle Projektbeteiligten fördert ein tieferes Verständnis für die Herausforderungen, mit denen Nutzer*innen mit Behinderungen konfrontiert sind, und trägt zu einer Kultur bei, in der Inklusion und Barrierefreiheit als selbstverständliche Ziele gelten.

Barrierefreiheitstests in zwei Phasen

Um sicherzustellen, dass eine Webseite für alle Benutzer*innen zugänglich ist, ist es sinnvoll, Barrierefreiheitstests in zwei Phasen zu unterteilen: zunächst in die  Entwicklungsphase für Templates und Modulen und danach in die Phase, in der diese Strukturen mit Inhalten durch Redakteure befüllt werden. Dieser zweistufige Ansatz ermöglicht es, sowohl die strukturellen als auch die inhaltlichen Aspekte der Webseite umfassend zu bewerten.

Phase 1: Entwicklung des Webseiten-Baukastens

In der ersten Phase liegt der Schwerpunkt auf der Konzeption, der Gestaltung und der Programmierung des Grundgerüsts der Webseite. Hier wird quasi der Baukasten entwickelt, mit dem später die Webseite erstellt wird. Hierbei ist es von entscheidender Bedeutung, dass dieser Baukasten – bestehend aus Templates und Modulen – technisch betrachtet barrierefrei umgesetzt worden ist.

Phase 2: Befüllung der Webseite durch Redakteure

In der zweiten Phase nehmen die Redakteur*innen den Baukasten und bauen aus diesem die Webseite, indem sie die Struktur erstellen, Content produzieren und Seiten mit Inhalten füllen. Auch hier gibt es spezifische Aspekte, die berücksichtigt werden müssen, um die Barrierefreiheit zu gewährleisten. Redakteur*innen müssen beispielsweise darauf achten, aussagekräftige Alternativtexte für Bilder bereitzustellen, ggf. Texte in einfacher Sprache zu erstellen, dafür zu sorgen, dass Videos Untertitel enthalten und so weiter.

Über die Phasen und darüber hinaus

Es ist wichtig, dass in beiden Phasen Tests durchgeführt werden, um sicherzustellen, dass sowohl die strukturellen Komponenten als auch die Inhalte barrierefrei sind.

Bis zum Livegang wird so die Barrierefreiheit durchgängig getestet, aber auch nach dem Livegang müssen bei Anpassungen auf der Webseite entsprechende Tests durchgeführt werden, damit die Barrierefreiheit weiterhin gesichert ist.

Basis für Webseiten sind die WCAG-Standards

Als Basis für die Barrierefreiheit und die dazugehörigen Tests werden die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) herangezogen.

Die WCAG sind dafür ein Set von Empfehlungen zur Gestaltung von Webinhalten, um sie zugänglicher zu machen. Du wurdest vom World Wide Web Consortium (W3C) entwickelt und umfassen eine breite Palette von Empfehlungen zur Verbesserung der Zugänglichkeit für Menschen mit verschiedenen Einschränkungen. Die Richtlinien sind in drei Ebenen unterteilt:

  • A – grundlegende Barrierefreiheitsanforderungen.
  • AA – die von den meisten Websites angestrebte Stufe, die einen guten Standard für Barrierefreiheit gewährleistet.
  • AAA – die höchste und anspruchsvollste Stufe, die alle WCAG-Anforderungen abdeckt.

Die Richtlinien selbst sind um vier Grundprinzipien herum organisiert, die als POUR bekannt sind: Perceivable (wahrnehmbar), Operable (bedienbar), Understandable (verständlich) und Robust (robust). Diese Prinzipien bilden das Fundament für jede Empfehlung innerhalb der WCAG und beschreiben die allgemeinen Ziele, die Webinhalte erfüllen müssen, um für Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten zugänglich zu sein.

Wie aber stellen die Projektbeteiligten sicher, dass ihre Webseiten diesen Standards entsprechen? Hier kommen verschiedene Varianten des Testings der Barrierefreiheit ins Spiel.

Automatisiertes Testing der Barrierefreiheit

Automatisiertes Testen der Barrierefreiheit ist ein unerlässliches Werkzeug im Prozess der Webentwicklung, um sicherzustellen, dass Webinhalte den etablierten WCAG-Standards entsprechen. Es nutzt spezialisierte Software, um Webseiten systematisch zu überprüfen und mögliche Barrieren für Nutzer*innen mit Behinderungen zu identifizieren. Diese Technik ermöglicht es z. B. Entwickler*innen, frühzeitig im Entwicklungszyklus Probleme zu erkennen und zu beheben.

Technische Durchführung von automatisierten Tests

Die technische Durchführung von automatisierten Barrierefreiheitstests gliedert sich hauptsächlich in zwei Schlüsselbereiche: die Analyse der DOM-Ebene (Document Object Model) und simulierte Benutzerinteraktionen. Beide Ansätze erfüllen das Ziel, Webseiten auf die Einhaltung der WCAG-Standards zu überprüfen, decken dabei aber unterschiedliche Aspekte der Barrierefreiheit ab.

DOM-Ebene Analyse

Im Kern jeder Web- oder HTML-Seite liegt das Document Object Model (DOM), eine strukturierte Repräsentation der Webpage im Speicher des Browsers. Automatisierte Testtools analysieren das DOM, um sicherzustellen, dass die Struktur und Semantik der Webseite den Barrierefreiheitsstandards entsprechen. Dies beinhaltet die Überprüfung, ob die HTML-Elemente korrekt genutzt werden, zum Beispiel die Verwendung von Überschriften-Tags (h1, h2, h3, usw.) in einer logischen Hierarchie, um den Inhalt verständlich zu strukturieren. Ebenfalls überprüft wird, ob Elemente, die für Benutzer mit Sehbehinderungen wichtig sind, wie Alternativtexte für Bilder (alt-Attribute), vorhanden und angemessen formuliert sind. Die korrekte Anwendung semantischer HTML-Elemente (wie <article>, <nav>, <footer>) ist ein weiterer Prüfpunkt, um die Zugänglichkeit und die Navigation auf der Seite zu verbessern.

Simulierte Benutzerinteraktion

Ein weiterer wichtiger Aspekt des automatisierten Testprozesses ist die Simulation von Benutzerinteraktionen. Spezialisierte Tools ahmen typische Benutzeraktionen nach, beispielsweise Tastatureingaben, Mausklicks und die Navigation durch eine Webseite mit Hilfe eines Screenreaders. Diese Tests sind besonders relevant für Webanwendungen, die dynamische Interaktionen erfordern, wie Formulareinreichungen oder jegliche Art von Benutzereingaben. Die simulierte Benutzerinteraktion hilft dabei, Probleme zu identifizieren, die Usern den Zugang oder die Nutzung der Webseite erschweren könnten.

Beispiele für Tests

  1. Tastaturnavigation: Ein Schlüsselelement der Barrierefreiheit ist die Fähigkeit, eine Webseite vollständig per Tastatur zu navigieren. Simulierte Tests prüfen, ob alle interaktiven Elemente, wie Links und Formularfelder, mit der Tabulator-Taste erreichbar und nutzbar sind.
  2. Screenreader-Kompatibilität: Hierbei wird simuliert, wie ein Screenreader Inhalte vorliest, um sicherzustellen, dass alle Textinhalte zugänglich sind und in einer logischen Reihenfolge präsentiert werden. Dazu gehört beispielsweise die Überprüfung von Alternativtexten für Bilder und ggf. eine korrekte Anwendung von ARIA (Accessible Rich Internet Applications)-Labels.
  3. Dynamische Inhalte: Moderne Webanwendungen laden häufig dynamisch und asynchron Inhalte nach, ohne die Seite neu zu laden. Simulierte Benutzerinteraktionstests können überprüfen, ob diese dynamischen Inhalte für Nutzer*innen mit Behinderungen zugänglich sind, beispielsweise durch Überprüfung der korrekten Benachrichtigung von Screenreadern, wenn sich Inhalte ändern.

Grenzen der Automatisierung

Obwohl automatisiertes Testen ein kraftvolles Instrument im Streben nach einer barrierefreien Webpräsenz ist, weist es doch signifikante Grenzen auf. Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht alle Elemente der Barrierefreiheit vollständig durch automatisierte Mittel geprüft werden können. Viele Aspekte erfordern ein menschliches Urteilsvermögen oder sind so nuanciert, dass sie einer manuellen Evaluierung bedürfen.

Bedeutung manueller Tests

Manuelle Überprüfungen ergänzen nicht nur die durch automatisierte Tests identifizierten Bereiche, sondern decken auch jene Problematiken ab, die außerhalb des Erkennungsbereichs von Softwaretools liegen. Eine umfassende Barrierefreiheitsstrategie sollte deshalb beides umfassen: automatisierte Verfahren zur Abdeckung der breiten Basis von Standardproblemen und manuelle Prüfungen durch Expert*innen oder Nutzer*innen mit Behinderungen, um die Feinabstimmung und den menschlichen Aspekt der Benutzererfahrung zu bewerten.

Fazit

Abschließend lässt sich sagen, dass digitale Barrierefreiheit nicht nur eine gesetzliche Verpflichtung, sondern auch eine ethische Verantwortung und eine Chance zur Verbesserung der Nutzerfreundlichkeit und Reichweite von Webprojekten darstellt. Die frühzeitige und bewusste Integration von Barrierefreiheitsaspekten in den Entwicklungszyklus führt zu besseren, inklusiveren digitalen Erfahrungen für alle Nutzer*innen. Durch die Kombination von automatisierten und manuellen Testverfahren auf Basis der WCAG-Richtlinien kann sichergestellt werden, dass Webseiten und Apps den vielfältigen Bedürfnissen ihrer Nutzer*innen gerecht werden. Nachhaltige Barrierefreiheit erfordert kontinuierliche Schulungen, Anpassungen und Tests, um die digitale Welt für jeden zugänglich zu machen und eine inklusive Kultur zu fördern.

Du hast Fragen dazu oder ein konkretes Anliegen? Dann freuen wir uns auf deine Anfrage. Unser interdisziplinäres Expert*innen-Team für das Thema digitale Barrierefreiheit berät dich gerne.

Weiterführende Infos

Artikel meiner Kollegin Annie Chen zum Thema Digitale Barrierefreiheit: Der Schlüssel zu mehr Vielfalt und Teilhabe im comspace Blog.

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