Gendern und geschlechtsneutrale Anrede: Mehr als nur eine “Befindlichkeit”

Liebe Leserinnen dieses Blogartikels…

LeserINNEN? Ja, liebe Leserinnen! Männer sind natürlich ganz lieb “mitgemeint”.

Fühlt sich komisch an?
Wissen Sie was? – Ich verstehe das. Denn ich bin ein Datenschutzbeauftragter und Datenschutzauditor. So steht es auf meinem Zertifikat. Genau so, wie ich Kunde bin. Benutzer. Webseitenbesucher. Patient. Als Frau.

Und auch, wenn ich weiß, dass ich “mitgemeint” bin, fühlt es sich nicht schön an. Und manchmal fühle ich mich eben doch nicht wirklich angesprochen. 

Kaum ein Thema polarisiert derart, wie das Gendern. 

Verschandelt Gendern die Sprache? Ist Gendern überfällig? Ist es Feministinnen-Wahn? Sind wir vielleicht doch einfach zu bequem? Und wenn Gendern, wie korrekt? Sternchen, Binnenmajuskel, Doppelpunkt? Verdammt, ist das kompliziert! (Und wir werden in diesem Blogartikel auch nicht alles klären können. Sorry!)

Gendern aus der Perspektive blinder und sehbehinderter Menschen

Das Gendern durch Sonder- oder andere Satzzeichen kann problematisch sein. Je nachdem, welche Screenreader-Software verwendet wird und wie sie eingestellt ist, wird mit diesen Zeichen anders umgegangen. So kann aus einem “Leser*innen” ein “Leser”, ein “Leserinnen” oder ein “Lesersterncheninnen” werden. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs


Wer sich übrigens fragt, ob die Inklusion denn jetzt wirklich auch noch ein Thema in der eh schon komplizierten Diskussion sein muss: Ja. Allein in Deutschland gibt es 1,2 Millionen sehbehinderte und blinde Menschen. 

Geschickt gendern

Umgehen kann man das Screenreader-Thema, ebenso wie die angeblich schlechte Lesbarkeit von gegenderten Texten, wenn man es geschickt anstellt. Das Genderwörterbuch bietet alternative gendergerechte Begriffe, welche nicht immer, aber doch erstaunlich oft, in vielen Texte übernommen werden können. 

So kann statt “Mitarbeiter (pl.)” genau so gut Mitarbeitende, Beschäftigte, Angestellte, Tätige, Belegschaft, Teammitglieder, Arbeitskräfte, Kollegium, Personal, Werktätige, Betriebs-/ Konzern-/ Firmen-, Unternehmensangehörige, bei uns beschäftigte Personen, Festangestellte, Arbeitsgemeinschaft, Arbeitsgruppe, Beteiligte, Crew, Team usw. verwendet werden.
Somit werden Texte nicht unleserlicher, sondern sogar abwechslungsreicher und lebendiger! 

“Das Marketing sagt aber, dass Gendern schlecht ist!”

Ein beliebtes Argument gegen das Gendern ist, dass es negativen Einfluss auf die Anzeigen-Performance haben soll. Aber ist dem wirklich so?

Um dies zu prüfen, wurde kürzlich ein Test durchgeführt, der erstaunliche Ergebnisse lieferte: Besonders bei der Verwendung von Gendersprache im Bild, führte das Gendern zu positiven Auswirkungen, die auch signifikant und messbar waren. Die Kosten pro Klick fielen um ganze 16% niedriger aus, als die der männlichen Variante. 

Dieses Argument scheint also keine Gültigkeit mehr zu haben.

“Aber alle hassen gendern!”

Unternehmen, die bislang nicht gendern, sagen auch oft, dass es “schlecht für das Image” sei. Und es ist auch tatsächlich so, dass es nicht selten auch mal negatives Feedback gibt, wenn man diesen Schritt in der Außenkommunikation dann doch geht. Aber: Die Zeiten ändern sich.

Diversität und diskriminierungsfreie Sprache sind zunehmend besser für das Image. Auch das lässt sich durch Studien belegen: “Das Viertel der Unternehmen mit der niedrigsten Diversität nach Geschlecht und ethnischer Hintergrund hat eine um 25% niedrigere Wahrscheinlichkeit, überdurchschnittlich zu performen.”

Große Tech-Konzerne werden in Form von Diversity-Emojis kreativ und bereiten ihre Software auf korrektes Gendern vor

Unsere Gesellschaft IST bunt und vielfältig. Das anzuerkennen und ins eigene Leitbild zu übernehmen, wird von einem Großteil der Bevölkerung als weltoffen, fortschrittlich und sozial wahrgenommen. Auch, wenn man mal einen negativen Kommentar zu einem Blogartikel bekommt.

Urteil: Neutrale Anrede bei Formularen ermöglichen

Doch auch wenn man sich als Unternehmen dazu entscheidet, lieber weiterhin auf das Gendern zu verzichten, so kommt man um das Thema doch nicht komplett herum.

Ende 2020 hat das Landgericht Frankfurt entschieden, dass in einem Online-Formular neben “Herr” und Frau” auch eine geschlechtsneutrale Anrede bereitgehalten werden muss

Dies betrifft Kontaktformulare, Accounts und auch Newsletter. Das klingt erstmal relativ simpel, aber sobald es an die Umsetzung geht, wird man feststellen, dass die Tücke im Detail liegt.

Bei Newslettern darf nach aktueller Auslegung der DSGVO nur ein Feld ein Pflichtfeld sein: Die für den Versand des Newsletters benötigte Email-Adresse. Andere Felder sind als optional zu kennzeichnen.

Wie geht man damit um, wenn eine neutrale Anrede gewünscht ist und nur der Nachname angegeben wurde? “Hallo Müller”? “Liebes Müller?” “Sehr geehrtes Müller”?

Unser Ergebnis: Die Ansprachen-Matrix

Wir haben uns Zeit genommen und viel recherchiert. Wir fanden zahlreiche interessante und hilfreiche Dokumente, wie die “Handreichung gendersensible Sprache in der Bremer Verwaltung”, die erst im Dezember neu rauskam und verfolgten Debatten. Dabei stellten wir fest: DIE EINE Lösung scheint es bislang nicht zu geben. 

Wir haben uns daher auf folgende Matrix geeinigt, welche nun bei unserer Newsletter-Anmeldung im Einsatz ist. (An dieser Stelle dürfen Sie das natürlich direkt live testen und sich für unseren Newsletter anmelden. 😉 )

AnredeVornameNachnameAnsprache im Newsletter
HerrArthurDentLieber Herr Dent
HerrArthurLieber Arthur
HerrDentLieber Herr Dent
HerrLieber Newsletterempfänger
FrauTriciaMcMillanLiebe Frau McMillan
FrauTriciaLiebe Tricia
FrauMcMillanLiebe Frau McMillan
FrauLiebe Newsletterempfängerin
Neutrale Anrede / –SamMüllerLiebe*r Sam Müller
Neutrale Anrede / –SamLiebe*r Sam
Neutrale Anrede / –MüllerLiebe*r Frau / Herr / Enby Müller
Neutrale Anrede / –Liebe*r Newsletterempfänger*in

Wer nun über das “Enby” gestolpert ist: Das Kürzel hat seinen Ursprung in der englischen Vokabel “nonbinary”. Es beschreibt Personen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität. Also Menschen, welche sich weder als männlich, noch als weiblich identifizieren und sich somit außerhalb der zweigeteilten (binären) Geschlechterordnung befinden. Mehr dazu hier

Diese Matrix ist als “erster Wurf” zu verstehen. Wir sind uns bewusst, dass diese (noch) nicht alle Bedürfnisse abdeckt. Wir haben aktuell (noch) kein sächliches Pronomen aufgenommen und auch der Begriff “Enby” wird nicht von allen verwendet oder gemocht. Es ist somit sehr wahrscheinlich, dass wir diese Matrix künftig noch verändern oder erweitern. 

Wir sind nicht perfekt. 

Wir machen nicht alles richtig. Wir wissen nicht alles.
Aber: Wir interessieren uns und wir lernen laufend dazu. Wir werden an dem Thema dranbleiben und neue Erkenntnisse und Entwicklungen in unser Blog, auf unsere Webseite und generell für unsere Außenkommunikation übernehmen. 

Denn wenn es Möglichkeiten gibt, mehr Menschen passend und für sie angenehm anzusprechen, mehr Menschen das Gefühl zu geben “gesehen” zu werden, dann möchten wir diese Möglichkeiten auch nutzen. Uns ist bewusst, dass das ein Prozess ist.

Und wir werden Sie auf unserer Reise mitnehmen und freuen uns, wie auch bei anderen Themen, über konstruktive Tipps und auf regen Austausch!

Beitragsbild von Sharon McCutcheon auf unsplash

Miriam Reichelt

Eine Antwort auf „Gendern und geschlechtsneutrale Anrede: Mehr als nur eine “Befindlichkeit”“

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