Demokratie, Gleichstellung, New Work (und etwas KI + Cash): re:publica ‘23 Rückblick

Zwei Tage lang sind meine comspace-Kollegin Sylvia und ich eingetaucht in die republica 2023, das Festival für die digitale Gesellschaft. Neben vielen tollen Sessions & Workshops (Fangirl-Moment ‘23: Mein Kochschürzengewinn im Workshop-Quiz vom eatREADsleep-Podcast!) haben mich vor allem drei Themenstränge nachhaltig beschäftigt: Demokratische Teilhabe, KI-Realismus und Gleichstellung.

Über Scheindebatten und echtes Engagement

Dieser Talk war ein Zufallstreffer und hat mich (als Twitter-Aussteigerin seit Ende 2022) persönlich berührt: In seinem Gespräch mit der Journalistin Jagoda Marinic über „Freiheit und Position“ erzählte Pianist Igor Levit über seine Abkehr von Twitter und den für ihn mit der Plattform zunehmend verbundenen „popkulturellen Aktivismus“, der zunehmend nicht mehr funktioniere. Seine Erkenntnis: „Irgendwas machen wir doch offensichtlich falsch, ohne es zu merken und führen uns damit offensichtlich zu häufig zu wohl.”

Jagoda Marinic formulierte es weiter: Sie wolle Leute wieder aktiv in Demokratie verwickeln, sie in den Austausch bringen und über Werte diskutieren, z.B. mit Hilfe des Formats Meinungsjournalismus. „Speaking to your own crowd“ sei nicht das, was wirklich Demokratie schaffe. Es gehe um Arbeit “an der Basis”, im nicht-digitalen Raum und die sei nunmal meistens nicht glamourös und instagrammable.

“Das ist keine Debatte. … Das ist Performance.“

Igor Levit über Auseinandersetzungen auf Twitter

Im Austausch mit Moderator Nilz Bokelberg wurde deutlich: Sich aktiv zu engagieren, führe häufig zu Überforderung. Mögliche Gründe dafür seien, dass politische Debatten zunehmend verkopft sind und (digitale) Scheindiskussionen uns Zeit und Energie rauben. Dennoch sei es wichtig, in der Demokratie eine aktive Rolle zu spielen und sich zu engagieren, zum Beispiel im Verein, bei der Feuerwehr oder der Nachbarschaftshilfe. Engagement erfordere Bildung und Zeit, die allerdings oft neben Erwerbs- und Caretätigkeit (zu) knapp ist. 

“Warum ist die Bürgergesellschaft am erodieren? Weil die Leute drei Jobs haben inzwischen, weil sie nicht mehr von einem Gehalt leben können.”

Jagoda Marinic

How to escape AI Realism

Über Tech-Billionaires und ihre Sorge vor einem tech-induzierten Weltuntergang (in entsprechenden Kreisen nur betitelt als „The Event“) erzählte Autor Douglas Rushkoff in seinem Talk „Survival of the Richest“.

Mit privaten Bunkern und Navy SEALs-Verstärkung wolle sich die Tech-Elite auf ein Endzeitszenario vorbereiten und der selbst-induzierten Tech-Evolution immer den einen relevanten Schritt voraus sein. Technik sei somit immer das Heilsversprechen, DIE Lösung für alle Probleme und gleichzeitig die ultimative Bedrohung. Das Tech-Mindset laute demnach: „Stay one step ahead.“

In seinem Vortrag “I’m sorry HAL, I won’t let you do that.” nannte Jürgen Geuther alias tante dieses Phänomen „AI Realism“. Diese Technikgläubigkeit lässt keine denkbaren Alternativen zur Zukunftsgestaltung zu (TINA: There is no Alternative). Da sei Widerstand durchaus angebracht, meint tante. Denn »nichts, absolut nichts ist alternativlos«.

Im Austausch mit Geraldine de Bastion erklärte Rushkoff dann die Hintergründe dieses Tech-Mindsets. Er spricht dabei von den Tech-Bros, den Billionaire-Technologists, die die Natur als etwas Unperfektes, Bedrohliches wahrnehmen. Wissenschaft und Technik werden dabei als Bezwinger der natürlichen Unordnung gesehen, mit denen man alles quantifizieren und kontrollieren könne – die Natur, menschliches Verhalten, Krankheiten, das Leben an sich. 

Das könnte (nur) ulkig sein, irgendwie kautzig, wenn es nicht um finanzstarke und einflussreiche Menschen ginge. (Ich erinnere in diesem Zusammenhang gerne nochmal an den Vortrag von Andreas Hepp in 2022 über Pioniergemeinschaften aus dem Silicon Valley.)

Auch hier stellt sich am Ende des Interviews die Frage: Was können wir tun? Rushkoffs Antworten:

  • Bildung, abseits von Maßnahmen, die unseren arbeitstechnischen Gebrauchswert (“utility value”) erhöhen sollen. “Understand the meaning of life, all the in between human stuff.”
  • Gemeinschaft. “Having obligations to our neighbours is good.” Also leih dir lieber den Bohrer von deinem Nachbarn, anstatt dir einen Bohrer für eine einmalige Nutzung zu kaufen. Rushkoff: “We are not here to support the market.”
  • Teilhabe. “Real change happens at the moment. Capitalism is for the future, technology is about building things for the future. If we are claiming this now, we have the opportunity to experience this as grounded and human and fun – rather than as a war.”

Von der Notwendigkeit einer Tätigkeitsgesellschaft

Über zwei klaffende Lücken sprach an Tag 2 Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung: Den Gender Pay Gap und den Gender Care Gap. Die Lohnlücke von Müttern sowie die Mehrbelastung durch Care-Arbeit führten zunehmend dazu, dass junge Frauen die Wichtigkeit eigener Kinder hinter die Karriere stellen (siehe auch Vermächtnisstudie 2023).

“Wir können nicht Cash und Gesundheit gegeneinander ausspielen. Daraus folgt für mich, dass eine Gleichstellungspolitik ihren Namen auch dahingehend ernstzunehmen hat, dass es eine Gleichstellungspolitik nicht nur für Frauen und nicht nur für Mütter, sondern insbesondere auch eine Gleichstellungspolitik für Väter ist.”

Jutta Allmendinger

Sie plädierte für eine (auch monetäre) Anerkennung von gesellschaftlich wertvollen Tätigkeiten, z.B. Ehrenamt. Außerdem plädierte sie  “für die Notwendigkeit, uns in eine Tätigkeitsgesellschaft zu wandeln, weg von der reinen Erwerbstätigkeit.” Gleichstellung gelinge nur, wenn Zeit für gesellschaftlich wertvolle Tätigkeiten, wie Pflegearbeit, Ehrenamt, demokratisches Engagement, fair verteilt ist. Deswegen sei sie Befürworterin der 4-Tage-Woche mit 32 Wochenarbeitsstunden, diese auch gerne flexibel handhabbar über die eigene Lebenszeit.

Bildung, Teilhabe, Gleichstellung – ein Integrationsversuch

Was aus diesen drei Perspektiven bleibt, sind für mich diese Erkenntnisse:

  • Der Aktivismus-Buzz in den sozialen Medien ist nicht nur nicht hilfreich, sondern sogar schädlich. Weil er uns mit Scheindebatten von wirklichem Engagement abhält, von der Auseinandersetzung mit den Menschen in unserem direkten Umfeld, von dem konstruktiven direkten Dialog, der einen Unterschied machen kann.
  • Tech-Gläubigkeit ist nicht alternativlos. Deswegen sage ich Goodbye zu TINA (There Is No Alternative) und Hallo zu TIAAA: There is always an alternative.
  • Demokratische und menschliche Bildung sowie Teilhabe an Gemeinschaft benötigen Zeit und finanzielle Ressourcen. Wenn wir möchten, dass sich alle Menschen in unserer Gesellschaft an deren Gestaltung beteiligen, brauchen sie einen gleichberechtigten Zugang zu diesen Ressourcen. (Empfehlenswert hierzu ist das Buch “Alle Zeit” von Teresa Bücker. Für einen Überblick empfehle ich dieses Interview zum Thema “Zeitgerechtigkeit”)
  • Ein wichtiger Hebel zu diesem gleichberechtigten Zugang zu Geld und Zeit ist unser Erwerbsleben. Damit dies gelingt, müssen wir Arbeit so gestalten, dass
    • EIN Einkommen pro Person reicht, um gut zu leben.
    • neben der Erwerbstätigkeit ausreichend Zeit für andere Tätigkeiten bleibt, wie Pflege, Ehrenamt, Bildung, gesellschaftliches Engagement.
  • Wenn wir Arbeit auf diese Weise neu denken, sind wir auf einmal ziemlich nah an dem, was mal vor langer Zeit als “New Work” gedacht wurde. Dann wäre “Arbeit” sowohl Erwerbsarbeit als auch gesellschaftlich wertvolle Tätigkeit. Und das finde ich einen richtig tollen Gedanken.

“Das Ziel der neuen Arbeit besteht nicht darin, die Menschen von der Arbeit zu befreien, sondern die Arbeit so zu transformieren, damit sie freie, selbstbestimmte, menschliche Wesen hervorbringt.” 

Frithjof Bergmann

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  • Meine Kollegin Sylvia veröffentlich ebenfalls einen Rückblick auf ihren re:publica-Besuch. hier bei uns im Blog. Stay tuned.
  • Alle Programmpunkte auf den großen Bühnen kann man beim re:publica YouTube-Channel anschauen.

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